Man muss immer ganz ehrlich sein. Ehrlich währt am längsten. Bitte formuliere klar und deutlich Deine Bedürfnisse, Wünsche und Verlangen.
Als ob es so einfach wäre. Als Jugendlicher gewann ein Großcousin von mir, damals so um die 20 Jahre alt, genau 100.000 DM im Lotto.
Aus unerfindlichen Gründen stand das damals sogar in der Tageszeitung und alle Augen des Dorfes lagen nun darauf, was der Gewinner mit all diesem, damals unvorstellbar vielem Geld, tun würde. Es schien, als ob dieses Geld ihm wirklich alle Wünsche erfüllen könnte.
Vielleicht war mein Großcousin jetzt unter Druck. Euch interessiert nun, ganz verständlich, was er mit dem Gewinn angestellt hat?
Nun ja. Zunächst, das rechne ich ihm hoch an, kaufte er seinem jüngeren Bruder einen VW Golf GTI. 110 PS. Schwarz. Tiefergelegt. Krasse Karre.
Dann buchte er über ein eher exklusives Reisebüro eine New York Reise, auf der er es so richtig krachen lassen hat. Er ließ sich tagelang in einer Stretch-Limousine durch die City fahren und speiste ausschließlich in sehr teuren Restaurants, die meist in den oberen Etagen der sehr hohen Hochhäuser lagen. Er erfüllte sich Träume und Wünsche und verriet mir nach der Rückkehr, dass es eigentlich nicht besonders schön war, der Stress zu hoch war und so manch einfacher Tag zu Hause perfekter wäre.
Mir fiel die Story um den Großcousin irgendwie so am Rande ein, weil ich mich mit meiner Frau darüber unterhielt, wie denn solch ein Traumtag aussehen müsste. Sie fragte: „Wie würde Dein perfekter Tag aussehen, wenn Du es Dir komplett aussuchen könntest? Wünsch dir was, Schnuffi!“
Ich kam zunächst in eine Art Schockzustand. Was sagen? Mein Hirn arbeitete effektiv, aber im Sprachzentrum kam nichts an. Ich sollte sagen, dass der perfekte Tag meiner Wahl mit einem tollen gemeinsamen Frühstück beginnt, wir mit dem Hund in einer langen Wanderung münden und am Abend bei einem Abendessen endet. Dazwischen ein Museumsbesuch, guter Kaffee. Ja, das wäre ein ziemlich toller Tag, mit meiner Frau und ganz sicher ein perfekter Traumtag. Meine Antwort war aber eine andere.
„Ein perfekter Tag. Also, nicht der perfekte Tag, sondern ein Tag, wie ich ihn mir einfach mal wieder wünschen würde, sieht genau so aus. Pass auf! Es ist einer dieser ersten warmen Sommertage. Alles ist übertrieben grün und alles wächst und treibt. Es ist ein Tag unter der Woche – sagen wir ein Dienstag – und alle anderen sind am Arbeiten. Das ist in diesem Zusammenhang wirklich wichtig, dass alle anderen arbeiten. Ich schlafe bis 8.30 Uhr. Ich frühstücke in aller Ruhe, aber mit so einer kleinen, nicht unangenehmen Vorfreude und Nervosität, was der Tag bringt. Etwas Anspannung. Alle meine Laufsachen liegen bereit, denn ich habe sie am Vorabend zurecht sortiert. Ich ziehe mich an, füttere den Hund, fülle die Flasks und mach mir einen letzten Espresso. Einen besonders starken. Dann laufe ich los. Mit Hund und nur einer wagen Idee, wie lange und wohin ich renne. Ich habe eine Runde im Kopf, aber nichts an diesem Tag soll in Stein gemeißelt sein. Es gibt keine Pace, keinen Plan, sondern nur das Wissen, dass dieser ganze Tag mir gehört und ich ihn in den Bergen verbringen werde. Wenn ich Lust habe schnell zu rennen, ist es gut, wenn ich wandere, ebenso. Am Abend will ich zu Hause ankommen und komplett fertig sein, ich will mich vor dem Haus auf die weiße Bank legen, ein kaltes Bier trinken und für zehn Minuten regungslos in den späten Himmel starren. Ich will, dass genau dann mein Gehirn so leer und friedlich ist, dass alles was irgendwie schwer war, auf einem Teil meiner langen Tagesstrecke liegen geblieben ist.
Dann will ich duschen, meine Füße mit so einer Rosmarin-Kastanien-Creme einschmieren und gutduftend vor zur Eisdiele spazieren, um dort drei Kugeln in der Waffel zu holen – Mandarine, Pistazie, Vanille. So ungefähr würde ein perfekter Tag aussehen, Schnuffi.“
Ich war mit meiner Frau im Urlaub. Wir waren in Rotterdam und saugten tagelang Kultur auf. Danach chillten wir in der Toskana und nach rund zwölf Tagen stellte ich fest, dass ich unbedingt mal wieder laufen sollte. Tief in mir war ein Verlangen nach Bewegung, nach genau solch einem Tag, wie ich ihn beschrieb.
An einem Dienstag Ende Mai, nahm ich ihn mir. Ich dachte dabei auch an jenen Großcousin und seinen Lottogewinn und mir fiel dabei ein, dass ich für meinen großen Tag eigentlich kein Geld brauche. Zumindest nicht im direkten Sinne. Die Qualität meines Wunschtags fährt nicht in einer Limousine durch NYC, sondern hat viel mit mir und einer einfachen Bewegung zu tun. Mit dem Beobachten und dem Vorankommen, mit einem intensiven Körpergefühl. Eine weitere Feststellung ist natürlich – es geht ausschließlich um mich – mein perfekter Tag hat rein gar nichts mit anderen Menschen zu tun. Ich nehme es so hin.
Dann ist er da. Der Dienstag. Mein Tag. Es ist 8.45 Uhr als ich loslaufe. Es ist ein Sommertag, der laut Vorhersage alles mit sich bringen wird, was es so gibt. Zwischen den Wolken blitzt blauer Himmel, Nebel hängt zwischen den Gipfeln. Ich denke mir, dass das irgendwie viel schöner ist, als so ein strahlend blauer Tag. Nach einigen Minuten liegt das Dorf hinter mir, ich treffe den Bundespräsidenten a.D, der seinen frisch geschorenen Königspudel ausführt. Unsere Hunde beschnuppern sich kurz, dann geht es weiter. Herr Köhler kennt mich nicht. Weshalb sollte er? Hinauf zur Rechenbergalm bemerke ich die Vorfreude auf den langen Tag. Mir wird mit jedem langen Schritt bergauf bewusst, wie mich heute die Uhrzeit nicht kümmert. Das Wissen, dass die kommenden Stunden, der Tag in seiner Gänze nur mir und diesem Lauf gehört, legt eine wunderbare Ruhe und Seligkeit über mich. Im weiteren steilen Aufstieg zum Gipfel des Hochgern setzte ich mich in einer Spitzkehre auf einen Baumstumpf und blicke für Minuten in die zentralen Alpen. Wolken fliegen an mir vorüber, der Himmel verändert im Sekundentakt sein Bild. Alles scheint in Bewegung. In einem Moment scheint Sonne, im anderen regnet und stürmt es. Ein Gewitter überrascht mich am Gipfel, ich renne nach unten und rette mich in ein Waldstück. Für eine halbe Stunde kauere ich, der Hund zusammengerollt eng an meinen Beinen, unter meiner Rettungsdecke. Ich bin so sehr im Moment. Der Regen hat nach Monaten der Kälte und des Winters endlich wieder diesen besonderen Duft und die Nachricht, dass nach ihm kein Schnee mehr kommt, sondern nur noch Sonne. Im langen Downhill trocknet es so schnell, wie es nass wurde und nach vier Stunden laufe ich durch einen kleinen Ort, der für seine sehr gute Bäckerei bekannt ist. Ich nehme mir die Zeit, genieße Erdbeer-Plunder und Cappuccino, gebe dem Hund etwas ab und zeichne mit dem Finger die Strecke in die vor mir liegende Gebirgskette, die jetzt folgt.
Mein Handy vibriert. Es ist mein Kollege Benni. Er will irgendetwas wegen einer Datenbank wissen. Ich antworte ihm kurz und sachlich und ziehe vom „100%-perfekten-Tag-Wert“ ungefähr 0,01% ab.
Es ist Mittag geworden. Zwischen Hochplatte und Kampenwand ertappe ich mich selbst in einem Zustand, den ich suchte und lange nicht innehatte. Ich bin in einem Flow, der nichts mit Geschwindigkeit und vielmehr mit Ruhe und Gelassenheit zu tun hat. Die Landschaft geht an mir vorüber, ich habe einen scharfen und unabgelenkten Blick für die kleinen Wunder der Natur. Ich erkenne kleine Bäche, kleine Lurche und Schnecken. Die warme Luft streichelt meine Unterarme und im nächsten Schattenstück kühlt frischer Wind meine Stirn. Dazwischen kriechen Blumen- und Grasduft in meine Nase. Es ist alles intensiv und doch unauffällig.
Nach neun Stunden, 62 Kilometern und 4.600 Höhenmetern komme ich zu Hause an. Ich lege mich auf die weiße Bank. Es regnet. Ich bin paniert. Komplett erledigt und komplett zufrieden. Nichts sollte jetzt anders sein. All meine Bedürfnisse sind erfüllt. Ich dusche und humple zur Eisdiele. Mandarine ist aus. Ich bin zu spät. Pistazie, Vanille, Haselnuss.