UTMB 2021. Checkpoint Les Chapieux. Die Nacht hat gerade begonnen. Ich laufe Seite an Seite mit der führenden Frau auf einer einsamen Asphaltstraße in die Berge. Es ist stockfinster. Ich suche verzweifelt nach einem coolen Gesprächsanfang. Natürlich fallen mir dutzende Fragen ein, die ich Courtney Dauwalter gerne stellen würde. Aber 50 Kilometer im größten Ultratrail Event des Planeten erscheint mir nicht der beste Zeitpunkt für ein umfassendes Interview zu sein. Ich unterdrücke also meine journalistische Neugierde und fasele irgendwas davon, dass die Strecke wahrscheinlich gleich technischer wird. „Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern“, antwortet Courtney und grinst. Typisch Courtney. Warum Energie verschwenden mit dem Gedanken an das, was noch kommt. Man könnte ja den Moment verpassen.
Wie willst du Verrücktheit messen?
Ich wage eine steile These: Courtney Dauwalter ist vielleicht eine der Letzten einer aussterbenden Art von Ultratrail Charakteren. Die ehemalige Lehrerin für Naturwissenschaften ist cool, locker, unbeschwert und gleichzeitig angenehm unaufgeregt und auf dem Boden geblieben. Ihr Zugang zum Laufen ist intuitiv, von einer umfassenden Neugierde und Lust am Grenzen ausloten geprägt und für eine Spitzen-Athletin ausgesprochen unkonventionell.
Fragt man sie nach ihrem Training, gibt die bescheidene Läuferin folgende Antwort: „Es gibt keinen Plan, keinen Trainer. Jeden Tag wache ich auf und überlege nach dem ersten Kaffee was ich heute trainiere. Natürlich weiß ich, wann ein Rennen ansteht oder wann spezifisches Training, wie zum Beispiel viele Höhenmeter machen oder Geschwindigkeit aufbauen, nötig ist.“ Doch darüber hinaus vertraut Courtney ganz ihrem Körpergefühl. „Oft weiß ich vor der Trainingseinheit noch nicht, wie schnell oder wie lang ich heute laufe, sondern entscheide das nach ein paar Kilometern basierend auf meiner physischen und psychischen Verfassung. Ich habe zum Beispiel einen Lieblingshügel, den ich gern laufe und wo ich oft Intervalle mache. Wenn ich während meines Laufs dort vorbei komme und ich es fühle, baue ich ein paar Bergintervalle ein und wenn nicht, dann eben nicht.“
Es überrascht nicht, dass Courtney weder nach Herzfrequenz trainiert, geschweige denn irgendwelche Leistungsdaten im Labor bestimmen lässt. Auf die Frage, ob es sie nicht interessiere mal wissenschaftlich im Labor zu untersuchen, was die Wurzeln ihrer immensen Leistungsfähigkeit sind, antwortet sie lachend: „Keine Ahnung. Ich meine, ich wär neugierig, welche Daten sie genau erheben würden. Aber wie willst du Verrücktheit messen?“
Courtneys Herangehensweise erscheint unkonventionell. Aber nichts läge Courtney ferner, ihr Modell als Gegenentwurf zum üblichen Status Quo zu begreifen. Für sie funktioniert dieses Konzept, was fast keines ist, eben bisher ziemlich gut. Wahrscheinlich weil sie die Letzte ist, die sich selbst schonen würde, wenn es nicht wirklich nötig ist. Und, weil sie das trainingswissenschaftliche Know How schon seit Kindheitstagen intus hat. Aufgewachsen in Minnesota nahm sie schon während High School Zeiten an Bahnlauf- und Langlaufwettkämpfen teil und wurde viermaliger „Minnesota State Champion“ im Cross Country Skiing. Von ihrem damaligen Trainer im Cross Country Team spricht sie noch heute in höchsten Tönen.
„Hier bin ich richtig“
2011, damals arbeitete Courtney als Lehrerin in Mississippi, lief sie ihren ersten Straßenmarathon. Und konnte sich vorher kaum vorstellen, diesen zu finishen. Nachdem dies aber ziemlich gut funktionierte, dachte sie sich: „Ich habe den Marathon gefinisht, obwohl ich vorher dachte, das ist zu hart. Was gibt es noch da Draußen, was einfach zu hart klingt, um machbar zu sein?“ Und so meldete sie sich für ihren ersten 50 Kilometer Trailwettkampf an. „Ich war so überrascht. Alle unterhielten sich während des Rennes, keine Uhr piepte jeden Kilometer und an den Verpflegungsstationen stopften sich alle die Taschen mit Gummibärchen voll. Da wusste ich: Hier bin ich richtig.“ Keine Frage, dass auch diese Distanz nicht zu hart für Courtney war und sie sich nur wenig später bei einem 50 Meiler und kurz darauf bei ihrem ersten Hundertmeiler anmeldete. In den folgenden Jahren lief Courtney viele Rennen. 100 Meilen auf Trails, 24 h auf einer Bahn – völlig egal. Hauptsache lang. Ihr großer Durchbruch war sicherlich der Overall Sieg des 240 Meilen langen MOAB 240 im Jahr 2017 (mit 10h Vorsprung auf den zweitplatzierten Mann) und der Sieg beim Western States im Jahr darauf. Interessant: Während die meisten Sieger und Siegerinnen beim Western States oft schnelle Läufer*innen sind, die zuvor viele Siege auf kürzeren Distanzen (50 Meilen, 100k) feierten, war Courtney zu dem Zeitpunkt schon ein echter 100 Meilen Profi. Ihr Siegeslauf beim WS100 2018 war ihr siebzehnter (!) Wettkampf über (mindestens) 100 Meilen.
2019 debütierte sie erfolgreich beim UTMB und siegte. Nur um diese Leistung zwei Jahre später selbst in den Schatten zu stellen, und nochmal sagenhafte zwei Stunden schneller zu laufen. Streckenrekord und sicherlich eine der größten Leistungen, die jemals im Ultralaufen erbracht wurden. Ein Tatbestand, der mit Sicherheit nicht nur dem Faktum entspringt, dass der Autor dieser Zeilen Courtney nach der besagten Aid Station Les Chapieux nie wieder sah und am Ende mit über zwei Stunden Rückstand auf die Ultra-Queen in Chamonix einlief.
Der „Pain Cave“
Was macht Dauwalter auf dieser legendären 100 Meilen Distanz so stark und nahezu unschlagbar? Es ist wohl auch ihr Umgang mit Schmerzen. Courtney nennt es den Pain Cave. „Früher habe ich diesen Zustand als etwas empfunden, was man im Rennen solange wie möglich vermeiden sollte. In den letzten Jahren habe ich mein Mindset geändert. Jetzt ist der Pain Cave ein Zustand, den ich erreichen möchte, den ich feiere, wenn er da ist. Den Pain Cave größer machen, statt ihn hinauszuzögern. Das ist nun mein Motto.“
Dass Courtney sich mit dieser Einstellung das ein oder andere mal in Grenzbereiche manövrierte, steht außer Frage. Ja, es gab sogar Momente, da musste man fast Angst haben, ob der Verrücktheit, die die sympathische Athletin an den Tag legte. Beim MOAB 240 zum Beispiel verlor sie 10 Meilen vor dem Ziel fast ihr Augenlicht und finishte trotzdem. Bei ihrem FKT Versuch auf dem 500 Meilen langen Colorado Trail, bekam sie nach 305 Meilen ernsthafte Lungenprobleme. „Ich habe elendig gekeucht und es hat sich so angefühlt, als wenn ich durch einen dünnen Strohhalm atme.“ Ein Grund zum Aufhören war das für Courtney natürlich nicht. Selbst als ihre Crew ihr eröffnete, dass sie sofort ins Krankenhaus müsse, dachte sie: Ich erzähl dem Doktor einfach, was ich vorhabe, und er wird sagen: Alles ok. Geh raus und mach weiter.“ Tat er natürlich nicht. Courtney bekam Sauerstoff und hatte viel Glück, dass ihre Crew so geistesgegenwärtig reagierte und Schlimmeres verhinderte.
Why is a desert never hungry?
456 Kilometer. Das sind 283 Meilen und Courtneys längste, je gelaufene Distanz. Geschehen bei der dezentralen Big’s Dog Backyard Weltmeisterschaft 2020. Nur zwei Belgier liefen noch länger im Kreis, als sie. Auch beim Barkley Marathon versuchte sie sich dieses Frühjahr. Dass Courtney sich auch diesen, weniger kommerziellen und liebenswert schrulligen Formaten stellt, beweist einmal mehr mit welch intuitiver und ehrlicher Begeisterung das Mädchen aus Minnesota den Sport Ultrarunning betreibt. Und sich und ihren Sport gleichzeitig nicht zu ernst nimmt: Ein Ritual zwischen ihr und ihrem Mann Kevin, der bei jedem Rennen als Support an ihrer Seite ist, ist das gegenseitige Erzählen von Witzen an den Aid Stations. Das geht dann so: „Why is a Desert never hungry?“ „Because of all the sand, which is there.“ Letzteren Satz muss man ein paar mal laut aussprechen, bevor es klick macht. Und man sich erfreuen kann an Courtneys Humor, der eigentlich genau so ist, wie sie selbst: schlicht, nahbar und einfach nur liebenswert.
Ich greife nochmal meine These vom Beginn des Textes auf. Courtneys fast unathletische, instinktive und erlebnisorientierte Herangehensweise an ihren Sport ist selten geworden, in Zeiten von immer stärkerer Professionalisierung. Ein wenig erinnert sie an den frühen Anton Krupicka. Oder Timothy Olson. Typen, die zwar auch Rennen gewinnen wollten, aber es verstanden, mit einer authentischen Lässigkeit aus dem Laufen einen Lebensstil zu formen, und dem Sport somit Leben einzuhauchen. Courtney kann das auch. Und ist ganz nebenbei die beste Ultratrail-Läuferin der Welt. Warum? Vielleicht, weil sie, wie nur wenige, versteht wie Ultrarunning funktioniert und gleichzeitig Spaß daran hat, wie kein anderer: „Umso länger das Rennen oder die Challenge ist, die du vor dir hast, umso mehr Puzzle Teile musst du zusammensetzen. Für mich ist das einfach ein großes Spiel.“ Sagt Courtney Dauwalter. Und lacht!