„Nein, ich habe es eigentlich nicht eilig.“
„Wieso rennen sie dann?“
„Ich habe Panik!“
„Ach so. Ach ja?“
„Geht es um einen Rekord wie schnell man hier einkaufen kann?“
„Nein, es geht um einen Ultra-Marathon auf der Kanareninsel La Palma.“
„Okay. Verstehe ich jetzt nicht. Viel Spaß noch beim Einkaufen.“
Ich sollte nicht darüber scheiben, dass ich einen Bänderriss hatte, im Anschluss einen Hexenschuss und eine fiese Grippe. Diese Umstände hatten mir mein Training, ähhh, die Vorbereitung zu meinen Saison-Höhenpunkt, dem Transvulcania, ein 73 Kilometer Ultratrail auf den Kanaren, mächtig versaut.
Ich bin also völlig aus dem Plan und die Zeit läuft ab bis zum Start dieses fabelhaften Rennens, bei dem ich unbedingt zu den Finishern zählen möchte. Ich hatte das vor einigen Jahren schon einmal geschafft und insgeheim träume ich jetzt davon, sogar etwas schneller (oder weniger langsam) zu sein. Träume eben.
Der Veranstalter des Transvulcania hat Humor, oder eben keinen, denn auf der Homepage, läuft eine Uhr ab. Die zählt Tage, Stunden und Sekunden bis zum Startschuss, der am Ufer des Atlantik früh morgens um 6 Uhr fällt.
Ich klicke also mehrmals täglich auf diese Uhr. Ich klicke und klicke, aber die Tage werden nicht mehr.
Und dann war da diese Panikattacke. Die Uhr zeigte im Feld der Tage „28“ an.
Durch die 28 entstand mein Plan. In den nächsten 6-7 Tagen werde ich nicht mehr gehen, sondern nur noch rennen, laufen. Eine absolute Konsequenz aus meinem Gefühl, völlig untertrainiert zu sein.
Vom Bad in die Küche – rennen!
Wohnung – Mülleimer – Wohnung – rennen!
Mit meiner Freundin ins Kino – rennen!
Lauch und Kohl, Klopapier und Tomatenmark – rennen!
Die Innenstadt von München.
Menschen gehen. Sie bleiben hin und wieder stehen. Sie tippen und scrollen, nippen am Kaffee zum Mitnehmen. Ich renne an ihnen vorbei, schlängel mich hindurch, lass die Rolltreppe rechts liegen und sprinte die Treppenstufen hinauf. Als Trainierender falle ich hier nicht auf, denn in Jeans, Strickpullover und Daunenjacke könnte ich auch als Münchner Agentur-Fuzzi durchgehen, der einem verspäteten Termin hinterher hetzt.
Ich bin mit der U-Bahn zum Kino gefahren. Es ist eine 20.30 Uhr Vorstellung und der Film erzählt eine Geschichte, in der niemand läuft. Die meisten Leute rauchen, sitzen, trinken und hin und wieder wird auch jemand umgebracht oder zumindest so zugerichtet, dass eine Todesfolge nicht unwahrscheinlich ist. Um 22.45 Uhr hat das groteske Massaker endlich ein Ende. Meine Freundin fährt auf Schienen nach Hause und ich renne quasi aus dem Schalensitz des Filmtheaters heraus die 9,5 Kilometer zur Wohnung im Grünen. Nach 250 Metern stelle ich mir die Sinnfrage. Was soll das sein?
War ich tatsächlich der Kerl, der im Cinemaxx-Kino auf der Toilette seine Laufklamotten angezogen hat, und die Zivilbekleidung in einen 20-Liter-Laufrucksack stopfte?
„Junger Mann, sie haben es eilig, wollen sie vorbei?“
„Nein. Passt. Ich habe Zeit.“
„Ich dachte, sie sind in Eile, weil sie so an die Kasse rannten!“
„Ach, ja, ich renne immer. Wissen sie. Ich renne eben, aber ich bin wirklich nicht in Eile.“
„Rennen ist gesund. Nicht wahr.“
„Ja, ja, man sagt es sei gesund. Nun, es kommt auf die Dosierung an.“
Ich stelle fest, dass ich mit den Tüten des Supermarktes in der Hand nicht rennen kann.
Ein zertifizierter Lauftrainer würde mir hier schlechte Haltungsnoten geben. Meine kommenden Einkäufe wandern in den alten Trekkingrucksack. Es gibt nur eine Ausnahme: Eier und Schlagsahne behalte ich in den Händen. Sie sind in dieser Woche so etwas wie meine „Handbottles“.
Diese kurzen Läufe, diese Rennerei vom Bürostuhl zur Mülltonne oder in die Küche. Das ist ungewohnt. Die Frage, ob es tatsächlich etwas bringt, wenn ich 23 Meter renne anstatt gemütlich zu gehen, die stelle ich mir nicht. An eine Sache glaube ich jedoch schon immer fest: Jeder Höhenmeter zählt. Ich verdreifache also das Treppensteigen in diesen 7 Tagen. Jede Treppe, die auf meinen Fußwegen liegt, sprinte ich nach oben, nach unten und wiederhole entsprechend. In der Anonymität der Großstadt wundert sich niemand über diesen Akt meiner Verzweiflung.
Meine Tochter meckert.
„Papa, wieso rennen wir?“
„Weil es sein muss!“
„Wieso muss das so sein?“
„Wegen der Transvulcania!“
„Was ist ein Transvulcania?“
Kurz vor dem Supermarkt stoppen wir und verzichten auf den Indoor-Trail. Wir gehen. Diese Filiale ist einfach zu eng gebaut und ich würde dem smarten Filialleiter wirklich gerne mal sagen, dass sein Laden zwar sensationell gut sortiert ist (ja, etwas Kinder- und Rentner-unfreundlich), aber für Laufsportler nicht ideal geschnitten wäre. Man kommt hier nicht in eine ordentliche, runde Laufbewegung. Bei einem guten, ausgeprägten Armschwung wäre ein Teil der Produktpalette nicht mehr in den Regalen. Nach dem Bezahlvorgang teilen wir die Einkäufe untereinander auf. Meine Tochter transportiert die Packung Brausestäbchen, ein Überraschungsei, ich eine Packung Kartoffeln und eine beachtliche Anzahl an echten Grundnahrungsmitteln.
„Papa. Du.“
„Ja, Kind. Du.“
„Du Papa, rennen wir jetzt wieder zurück!“
„Klar. Klar. Ganz klar. Transvulcania weißt du doch noch!“
Tag 4.
Ich gewöhne mich an diesen Zustand. Laufen wird eine Selbstverständlichkeit. Ich muss an diesem vierten der sieben Tage nicht mehr darüber nachdenken. Ich tu es einfach. Die Haustüre geht auf und ich renne los. Um die Sache klarzustellen: Lange Strecken lege ich mit dem Auto zurück, aber ich renne von der Zapfsäule zur Kasse und zurück. Ich renne im Baumarkt vom Holzzuschnitt zu den winterfesten Gartensträuchern im Außenbereich und ich hole die Tageszeitung im Laufschritt, um die Treppe zur Wohnung in ein Bergintervall-Training zu verwandeln.
Heute hat mich ein älterer Herr, mit dem ich geschäftlich zu tun hatte, gefragt, wann es denn am besten sei, zu joggen? Er würde gerne wieder damit anfangen und sei sich nun nicht sicher, ob früh am Morgen oder am späten Abend und wie und wo und überhaupt.
„Ich denke, sie sollten am frühen Morgen laufen. Da sind sie frisch und ausgeschlafen.“
„Ja. Ach so. Stimmt. Am Abend fehlt die Energie nach einem langen Tag.“
„Sie können aber auch immer laufen. Also einfach nie mehr nur gehen. Immer rennen. Das ginge auch. Zumindest eine Zeit lang.“
Tag 7.
Es ist vorbei. Ich bin wieder normal. Ich überquerte die Hauptverkehrsstraße und musste im dichten Verkehr über beide Spuren sprinten. Als ich am anderen Gehsteig ankam, stoppte ich ab und ging weiter. Langsam und in aller Ruhe.