RUN
100 Seiten
DIN A6
Ca. 25 Kurzgeschichten rund um das Laufen
Leseprobe.
Distanz
Strecke und Distanz ist irrational, weil bloße Zahlen, überhaupt keinen Inhalt kennen. Sie sind leere Hülsen.
Nehmen wir die beliebte 100 Meilen-Distanz. Wer sie hinter sich hat, wer sie finisht, spürt direkt im Ziel, am Tag danach, wer und was sich hinter 100 Meilen versteckt. Wochen danach schwinden die Gedanken an Schmerzen und Mühen – es bleibt ein gutes Gefühl. Unser Gehirn ist genial. Man mag fast glauben, dass die Veranstalter solcher Wettkämpf unsere Gehirne dahin gehend bestechen, um uns wieder und wieder zum mitmachen zu bewegen.
Ich lief einmal 350 Kilometer und war fast 5 Tage und 5 Nächte unterwegs. Ich erlebte diese irrwitzige Laufdistanz als ein eigenes Leben in meinem Leben.
Während des Rennens hatte ich sehr viel Zeit zum denken. Ich dachte aber leider fast nur Unsinniges, Dinge und Ideen, die mir nichts bringen. Keine einzigartigen Geschäfts-Ideen, keine Lösungen um die Welt zu retten. Stattdessen nur Befindlichkeiten.
Nach 124 Stunden kam ich im Ziel an. Mein Kopf war leer geräumt. Ein guter Zustand. Ein Zustand, den ich gesucht und gefunden hatte.
Heute würde ich keine 50 Kilometer am Stück laufen können.
Die Distanz von damals ist mir fremd.
Wir müssten uns wieder einmal annähern.
Eine Ode an das Laufen
Über meinen ersten echten Lauf gibt es einiges zu sagen. Ich hatte in meinem Buch „ Einen Sommer lang“ schon darüber berichtet, muss diesen Frühsommertag im Jahr 1983, nun aber ausführlicher erklären. Würde ich aus rein läuferischer Sicht auf dem Sterbebett liegen, wäre dieser schwül-warme Mai-Mittwoch, meine Geburt gewesen.
Eigentlich war es überhaupt nicht mein Lauf. Es war der Lauf meines Vaters. Er war kein Läufer, sondern ein Ballsportler. Er spielte Fußball, später Tennis. Die logische Folge wäre Golf gewesen, aber das scheiterte an der zu hohen Aufnahmegebühr. Nun ist es so – als Fußballer läuft man, als Tennisspieler läuft man und doch ist Laufen nur ein Mittel zum Zweck. Würde der Fußballer eine Möglichkeit finden, den Ball ohne zu laufen in das gegnerische Tor zu schießen, dann würde er das so tun. Würde im Tennissport, der Ball immer direkt zur Frau oder zum Mann kommen und nicht anders herum, würde das dankbar angenommen. Im Laufsport ist das anders und das erlebten mein Vater und ich an diesem Tag im Mai. Vielleicht war es auch Juni. Es tut nicht zur Sache.
Es war Sommer und es waren die 1980er Jahre, eine Zeit von der man heute sagt, dass es eine glückliche Zeit war, eine Zeit in der es sehr viele Gewinner gab. Die Bundesrepublik auf ihrem Höhepunkt, mit allen seltsamen Nebenwirkungen und einer Mode, die nie wirklich ein Revival bekam und das aus guten Gründen.
Mein Vater joggte los. Er trug dabei seine alten Sportschuhe aus dem Wehrdienst bei der Bundeswehr. Zu dieser Zeit joggten sehr viele Männer mittleren Alters in diesen mittelblauen Schuhen. Es gab damals kaum ein Bestreben beim Laufen gut auszusehen. Es war ja etwas was man unter vollkommenem Ausschluss anderer Personen machte. In diesem Falle war das aber anders, denn mein Vater wurde einige male gesehen, wie er da so durch den Mischwald rannte und dann schrieben sie in einer Gemeindezeitschrift, dass er, also mein Vater, der, da er sich für die SPD, in einer Bezirkswahl hatte aufstellen lassen, ein Marathonläufer wäre. Das war jedoch falsch.
Er war kein schlechter Läufer. Als Fussballspieler war er lauffreudig und schnell. Egal. Er joggte los und es war noch immer 1983. Niemand interpretierte etwas Tieferes oder Sinniges in das Laufen hinein. Laufsport hatte bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen seinen Stellenwert, bei lokalen Silvesterläufen trafen sich Leute, die aus sozialen Unzulänglichkeiten im Teamsport keine Heimat gefunden hatten. Dann gab es noch Stadtmarathons, die für normale Menschen damals irgendwie überhaupt kein Thema waren. Mein Vater interessierte sich an diesem Tag überhaupt nicht für einen Stadtmarathon und eigentlich weiss ich bis heute nicht, weshalb er loslief. Was war der Grund? In meiner matten Erinnerung, tat er das auch nie mehr wieder. Er ging nie mehr joggen.
Es muss zwischen 17 Uhr und 18 Uhr gewesen sein als er schliesslich leicht trabend loslief. Ich habe das Bild, wie er sich von unserem Haus weg bewegte noch vor Augen, weil es direkt hoch ging. Wir lebten am Berg. Er hätte nicht flach laufen können. Er hätte bergab ins Ortszentrum laufen können, oder eben nach oben. Und er entschied sich für Letzteres. Für einen Moment verschwand er aus meinem Blickfeld. Ich verfolgte ihn. Er lief nicht sonderlich schnell und ich holte ihn rasch ein, blieb jedoch mit einem Abstand hinter ihm und ich verhielt mich unauffällig. Wieso ich ihn verfolgte, kann ich nicht sagen. Es mag die Langeweile eines 10-Jährigen Buben gewesen sein, eine Langeweile, die es vermutlich in dieser Art nicht mehr gibt. Es war, es muss, so ein Gedanken gewesen sein wie „Was soll ich hier rumsitzen, wenn ich meinen Vater bei etwas beobachten kann, das er eigentlich nie tut.“
Er lief über Streuobstwiesen, stoppte und schnürte sich die Schuhe. Ich versteckte mich hinter einem Busch, bis es weiter ging. Nach 30 Minuten waren wir so weit vom Haus entfernt, dass ich die Gegend nicht mehr kannte. Das fand ich spannend. Das Gefühl, das Wissen, dass wir nun so weit zu Fuß gelaufen sind, dass wir nicht mehr wirklich dort sind wo wir wohnen, war ein aufregender Zustand. Mein Vater blieb stehen. Plötzlich. Er drehte sich um und entdeckte mich. Er zuckte mit den Schulter und hob mahnend die Hände in die Höhe.
Ich hatte kein Antwort auf die Frage parat, aber ich weiss noch, dass er relativ entspannt sagte, dass ich jetzt die ganz große Runde mit ihm fertig laufen müsse, weil es sich nicht lohnen würde umzudrehen. Also liefen wir weiter und ich glaube, dass er ab diesem Moment schneller lief. Es war ein Test. Ich hatte einen hochroten Kopf, ich hatte Seitenstechen. Meine hellblonden Haare klebten im Nacken und auf der Stirn, ich schwang einen Arm durch, mit der Hand des anderen Arms versuchte ich den Seitenstech-Schmerz wegzudrücken.
Es war, das kann ich sagen, ein Mix aus Himmel und Hölle. Ich genoß es zu laufen, an ihm dranzubleiben, ich fixierte hochkonzentriert und wortlos seine Fersen, hörte meinen eigenen Atem so intensiv, dass ich nahezu alles um mich herum nicht ehr wahrnahm. Ich fühlte mich sehr erwachsen und irgendwie war das was ich da tat etwas unglaublich Wichtiges. Die Auszeichnung für das was ich da gerade leistete, wurde mir häppchenweise mit jedem Schritt vergeben…
Die Lösung
Ernst aus Waldenbuch bei Stuttgart ist 77 Jahre alt und läuft seit er 16 ist. 1970 lief er seinen ersten Marathon und er wurde einmal Landesmeister im Crosslauf. Bis heute wurde seine Zeit von damals nicht unterboten.
Heute steht er, bis auf Mittwochs, immer um 5.30 Uhr auf, zieht den hellblauen Sportdress an und läuft genau 12,7 Kilometer. Vom Wohnblock hinüber in das Waldstück, auf eine Anhöhe und über leere Maisfelder zurück nach Hause. Seit nunmehr 9 Jahren kann er seine Zeit für diese Haurunde konstant halten. Er benötigt nie länger als 1 Stunde und 55 Minuten. Als ich ihn frage, was denn passieren würde, wenn er einmal langsamer läufe, antwortet der ehemalige Metallschlosser:
„Nichts. Es passiert nichts.
Ich wäre dann ganz einfach kein Läufer mehr.
Das wäre nicht schlimm.“